Rezension: Himmelsturm

Vorbemerkung: Eigentlich steht die Reise der Thorwalerkapitäne Phileasson und Beorn im Streit um den Titel des größten Seefahrers aller Zeiten erst an ihrem Anfang und damit unterliegt ein solcher Roman im Normalfall gewissen erzählerischen Konventionen: Den dramatischen Höhepunkt einer längeren Handlung findet man in den meisten Erzählmedien, seien es Filme, Serien, Romane oder Theaterstücke vornehmlich deutlich in der zweiten Hälfte der Gesamthandlung. Etwas anders gestaltet es sich hier, im Folgeband zu „Nordwärts“ (ebenfalls verfasst von Bernhard Hennen und Robert Corvus). Fragt man „Veteranen“ der Rollenspielvorlage nach dem Höhepunkt der Phileasson-Kampagne, so dürfte sehr häufig das Vordringen in den Himmelsturm genannt werden, also die erst zweite Episode von zwölf Einzelaufgaben. Tatsächlich geht es mir ähnlich, am meisten hat sich diese Aufgabe in mein Gedächtnis eingebrannt, wenn Phileasson und seine Gefährten in die menschenleere Ödnis des aventurischen Norden aufbrechen, um dort das Geheimnis eines uralten Bauwerks zu lösen  und mit zunehmender Aufenthaltsdauer feststellen, dass dort keine freundlichen Mächte zugange sind und sie sich weitab von jeglicher Unterstützung in tödliche Gefahr begeben haben.

I. Aufbau und Inhalt

Vom grundsätzlichen Aufbau unterscheidet sich „Himmelsturm“ kaum von „Nordwärts“. Auch hier steht zu Beginn ein längerer Prolog, der einen völlig anderen Handlungsstrang verfolgt und dazu dient, die Vorgeschichte einer beteiligten Figur näher zu erläutern. Darauf folgt die weitere Schilderung des Wettstreits, wobei immer wieder zwischen beiden Mannschaften hin- und hergesprungen wird.

Der Prolog widmet sich dieses Mal dem Magier Abdul el Mazar. Dieser wird den Lesern zunächst als um seine Nächsten besorgter Mann vorgestellt, der viele Risiken eingeht, um eine seiner Nichten zu befreien, die von Sklavenjägern nach Al`Anfa verschleppt wurde. Zusammen mit seiner zweiten Nichte Jamilah nimmt er die weite Reise in den aventurischen Sündenpfuhl auf sich. Schnell stellt sich vor Ort heraus, dass die gesuchte Selime nicht irgendwem in die Hände gefallen ist, sondern einem Kult von Dämonenpaktierern ohne jegliche Skrupel. Wirkt Abdul zunächst wie ein alter, vom Leben gezeichneter Greis, entpuppt er sich recht bald als kompetenter Magier mit einer dunklen Vergangenheit, der seinerseits eine echte Gefahr für seine Gegner darstellt.

Nach dem Prolog wechselt die Handlung vom Tiefen Süden wieder in den völlig gegensätzlichen Hintergrund des Hohen Nordens, zurück zur Haupthandlung um die Gruppen von Phileasson und Beorn. Nach der ersten Findungsphase in „Nordwärts“ dringen die beiden Mannschaften im Zuge ihrer zweiten Aufgabe noch tiefer in das ewige Eis vor, ihrer eigenen Vermutung nach weiter als jemals ein Mensch vor ihnen. Ein ungleich anderes Kaliber stellt auch die Aufgabenstellung dar, gilt es doch das Geheimnis des Himmelsturms zu ergründen.

Erzählerisch springen die Autoren nun wieder zwischen beiden Gruppen, wobei unterschiedliche Figuren im Vordergrund stehen, so rückt neben Beorn nun der bislang sehr mysteriöse Elf Galayne mehr in das Rampenlicht. In Phileassons Gruppe sind es neben dem Hetman der Elf Salarin und der Magier Tylstyr, deren Perspektive mehrfach aufgegriffen wird. Zudem werden die beiden Traviageweihten Lenya (Beorn) und Shaya (Phileasson) als untypische Heldenfiguren aufgegriffen.

Besonders fällt die Konzentration auf einen Schauplatz auf, bis auf kurze Passagen zu Beginn und zum Ende der Haupthandlung spielt der gesamte Roman im Himmelsturm und schildert, wie beide Gruppen sich durch die einzelnen Räume und Hallen immer tiefer zu den unteren Ebenen des Turms vorarbeiten.

Als Thema stehen deutlich mehr Spannungs- und Horrormotive im Zentrum, nachdem der Vorgänger ja eher die Findungsphase beider Mannschaften und Grundkonflikte beinhaltete. Hier nun generiert sich die Spannung aus der düsteren Atmosphäre, die aus der schnell gewonnenen Erkenntnis erzeugt wird, dass der Himmelsturm offenbar eng mit der Geschichte der Hochelfen verbunden ist und dass viele seiner Einwohner ein gewaltsames Ende gefunden haben. Wer oder was allerdings für die vielen Leichen verantwortlich ist, auf die die Gruppen ständig stoßen, bleibt lange verborgen.

Ein anderer Aspekt, der im Laufe der Geschehnisse ebenfalls verstärkt erörtert wird, ist die Frage nach der Natur des Wettstreits und seinen Hintergründen. Langsam wird allen Beteiligten bewusst, dass mehr als ein reines Messen der Fähigkeiten stattfindet, sondern dass anscheinend höhere Mächte ihre Finger im Spiel haben.

II. Kritik

Das Vordringen in den Himmelsturm war im Rollenspiel ein episches Ereignis: ein uraltes Dungeon, das mit Mysterien verbunden ist, die in längst vergangene Zeiten zurückreichen und das Schicksal einer Kultur aufzeigen, deren Macht immens gewesen sein muss. Zudem wurde mit jedem Schritt tiefer in den Himmelsturm deutlich, dass die dort liegenden Geheimnisse keineswegs harmlos sind,  sondern man sich in der Mitte des Nirgendwo – also ohne Aussicht auf externe Hilfe – mit Kräften auseinandersetzen muss, die die eigenen Mittel deutlich übersteigen. Und wenn das Chaos dann losschlägt, bleibt nicht viel anderes als eine wilde Flucht. Für mich war das damals schon vergleichbar mit dem Hinabsteigen von Tolkiens Gefährten in die Minen von Moria.

Und tatsächlich behält die Romanumsetzung genau dieses Gefühl, der Spannungsfaktor ist immens hoch (selbst wenn man die Eckpunkte der Handlung schon kennt). Einzig der Ersteindruck schmälert das Gesamterlebnis: Wenn der Himmelsturm das erste Mal vor Phileassons Gruppe auftaucht, fehlt eine atmosphärische Beschreibung der Wahrnehmung durch die Betrachter, was auch in Anbetracht des schönen Covers schade ist. Das ändert sich dann deutlich im Innenbereich, wenn allenthalben Reste der alten Hochelfenkultur vorhanden sind und – hier kommt der Horrorfaktor hinzu – überall die Toten aufgefunden werden und später mehr und mehr Geistererscheinungen auftauchen. Dazu kommt die langsam immer mehr abgesicherte Erkenntnis, dass der Turm mitnichten unbewohnt ist und dass diese Bewohner keineswegs friedlich gesinnt sind. Gerade das Herauszögern dieser Konfrontation ist ein gut gewähltes Spannungsmittel.

Allerdings kommt die Handlung nicht gänzlich ohne Längen aus, stellenweise werden einige Passagen etwas überstrapaziert, wenn z.B. gefühlt endlos einige sprechende Raben verfolgt werden und lange darüber diskutiert wird, wie deren Botschaften zu verstehen sind. Durch die vielen Räume und die Sprünge zwischen den Mannschaften verliert man als Leser zudem manchmal etwas die Übersicht, wo man sich gerade befindet und wie die konkreten Begebenheiten vor Ort gestaltet sind.

Sehr ausführlich fällt dafür die Beschäftigung mit den einzelnen Figuren aus, auch wenn in Phileassons vielköpfiger Gefährtenriege nicht jeder gleich viel Raum gewidmet bekommt. Etwas überraschend ist allerdings die eher klein ausgefallene Rolle von Galandel, die – obwohl sie eigentlich das meiste Interesse am Himmelsturm haben sollte – seltsam passiv bleibt, meist wird eher ihre Überwältigung von den Eindrücken beschrieben. Umgekehrt verhält es sich mit Salarin, der hier deutlich mit seinem elfischen Erbe konfrontiert wird, was im letzten Drittel auch als Mittel der Vorausdeutung auf zukünftige Ereignisse genutzt wird.

Sehr positiv fällt die viel intensivere Beschäftigung mit Beorns Mannschaft ins Gewicht, die hier – nun auf eine kleinere Kerngruppe reduziert – viel mehr Profil gewinnt. Galayne – ohnehin eine der interessantesten Figuren – bleibt zwar immer noch undurchsichtig, langsam werden aber mehr Details seiner Vergangenheit offengelegt. Aber auch andere Figuren wie Ursa erhalten mehr Profilschärfe, wenn diese sich eben nicht nur als stures und respektloses Ärgernis erweisen darf, sondern auch als umsichtige Unterführerin, der sehr wohl am Überleben ihrer Mitstreiter liegt.

Am meisten gilt dies aber für Beorn selbst, der nun mehr Facetten offenbart. So verwischt sich der Eindruck des skrupellosen Egoisten, der Mannschaftsmitglieder für den eigenen Nutzen opfert (wie in „Nordwärts“ geschehen), wenn er einen sterbenden Gefährten einfühlsam in seinen letzten Momenten begleitet. Noch bemerkenswerter erscheint die Emanzipation von Galyne, den er nun auch handfest in die Schranken weist, statt seinen Einflüsterungen zu folgen und diesem weitgehende Autonomie zu gewähren. Dies geht dann allerdings etwas zu Lasten von Phileasson, der stellenweise etwas zu weich wirkt, wenn er bei Konfrontationen mit Beorn stets zurücksteckt.

Umgekehrt wird auch die Denkweise beider Kapitäne weiter verdeutlicht. Das bisherige Bild legte ja eher einen klares Schwarz-/Weiß-Kontrast zwischen beiden Kontrahenten nahe, der bedächtige Phileasson gegen den hartherzigen und egoistischen Beorn. Nun kristallisiert sich mehr eine andere Rollenverteilung heraus, in der Beorn von dem Denken eines Kaperfahrers bestimmt wird, während Phileasson aus der Position des Entdeckers agiert.

Eine Sonderrolle nimmt Abdul ein, der in der Haupthandlung erst spät auftaucht und dort noch sichtlich durch seinen Zustand eingeschränkt wird. Der Prolog – diesmal für meine Begriffe deutlich stimmiger mit dem aventurischen Hintergrund als das Pendant in „Nordwärts“ – zeigt eine sehr ambivalente Figur mit einer düsteren Vergangenheit, in der Gegenwart aber geläutert, bis ihn die Ereignisse zwingen, alte Gewohnheiten wieder aufzunehmen. Hier wird interessant sein, wie er in den folgenden Bänden in die Handlung integriert wird, auch in der Kombination mit Tylstyr, dem bisher einzigen Magier der Gruppe.

III. Fazit

Mit „Himmelsturm“ nimmt die Saga um den Wettstreit der beiden legendären Thorwalerkapitäne einen frühen dramatischen Höhepunkt ein. Besonders prägend wirkt sich die düstere Atmosphäre aus, wenn die Gruppen tiefer in den Untergrund des gigantischen Bauwerks vorarbeiten und Stück für Stück die uralten Mysterien entschlüsseln. Auch wenn durchaus Längen erkennbar sind, ist der Roman trotzdem fesselnd, auch weil Beorn zunehmend ambivalentere Züge erhält. Die Grusel- und Horrorelemente sind zudem stimmig eingesetzt, wobei gerade die Verzögerung von Konfrontationen und das Andeuten von großer Gefahr für zusätzliche Spannungsmomente sorgen.

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