Vorbemerkung: Nachdem die Felder des zwölfgöttlichen Pantheons im Vademecum-Bereich mittlerweile vollständig erschlossen sind, hat mit Kor zuletzt der Reigen der Halbgötter begonnen. Fortgesetzt wird dies nun mit einer deutlich weniger martialischen Gottheit: Aves sagt man gemeinhin eine eher friedliche und lebensbejahende Natur nach. Tatsächlich wird dieser Eindruck schon durch das quietschbunte Cover unterstrichen. Ob der Inhalt (verfasst von Daniel Simon Richter) ähnlich farbenfroh und abwechslungsreich gehalten ist, möchte ich in der folgenden Rezension klären.
In Zahlen:
– 160 Seiten
– Preis: 14,95 Euro
– erschienen am 4.10.2017
I. Inhalt und Aufbau
Wie bei den anderen Bänden auch handelt es sich um die gesammelten Lebensweisheiten einer erfahrenen Geweihten, die die Erzählerrolle einnimmt, hier die Avesgeweihte Averia ter Aarhoven. Zunächst stellt sie die Hintergründe und Wesenszüge des Gottes der Wanderer und Reisenden dar, wozu beispielsweise seine Abstammung als Sohn von Phex und Rahja gehört, womit auch erläutert wird, wieso er Charakteristika beider Eltern in sich vereint. Ebenso wird auch alternative Bezeichnungen in den Dunklen Zeiten und in Myranor eingegangen.
Das folgende Kapitel hat einen sehr personalen Schwerpunkt, wenn Averia zunächst mythische Begleiter von Aves vorstellt, wie den Reitvogel Adivios oder Avatas die Bunte, eine geheimnisvolle junge Frau, die sich während der Borbaradianischen Invasion als Retterin vieler einfacher Menschen hervorgetan hat, um anschließend auf mysteriöse Art und Weise zu verschwinden. Heilige im klassischen Sinne sind kaum vertreten, stattdessen werden viele illustre Persönlichkeiten aufgeführt, die sich als Reisende und Entdecker hervorgetan haben, wie Rateral Sanin, der Schriftsteller Kara ben Yngerymm und die zeitgenössischen Größen wie Phileasson Foggwulf und Harika die Rote. In einem späteren Kapitel werden zudem noch wichtige Geweihte vorgestellt.
Auch wenn die Aveskirche kaum über eine straffe Organisationsstruktur verfügt, gibt es doch drei zentrale Strömungen, denen sich die Geweihten verschrieben haben: die Zugvögel, also die klassischen reisenden Geweihten, die Weltsehenden, die aufgrund unterschiedlicher Hintergründe sesshaft wurden und in den wenigen Tempeln dienen und zuletzt die Wandervögel, Akoluthen, die sich auch ohne Weihe den idealen Aves verschrieben haben bzw. die Stillen Wanderer, die zwar Geweihte sind, sich aber nicht als solche zu erkennen geben. Die Kirchengemeinschaft folgt zwar keiner strengen Hierarchie, allerdings gibt es durchaus eine Reihe von Gruppen innerhalb der Glaubensgemeinschaft, wie die „Gemeinschaft der Freunde des Aves“, finanziell potente Entdecker und Mäzene, die Forschungsreisen unterstützen. Auch gibt es typische Erkennungszeichen des Avesgeweihten wie den Avesstab oder die bunte Tracht.
Mythische Gegenstände sind ebenfalls selten, aber durchaus bekannt, z.B. die Alveransfeder, die ein wichtiges Weiheobjekt für Güldenlandreisende darstellt. Feste Tempel gibt es nur wenige, vornehmlich ist hier der Pfauentempel zu Fasar als wichtigster Ort zu nennen oder der Tempel in Teremon, der speziell von Seereisenden aufgesucht wird. Häufiger trifft man aber eher auf Wegschreine, der rastlosen Natur des Gottes folgend. In eine ähnliche Kerbe schlagen die Gebete und Anrufungen, handelt es sich doch bei den beinhalteten Beispielen vornehmlich um Gebete von in Not geratenen Reisenden. Umgekehrt sind die Liturgien und Zeremonien der Avesgeweihten vor allem dazu angetan, anderen Wandernden Schutz und Unterstützung zukommen zu lassen. Weitgehend wird aber allen gemein die Freigeistigkeit als Wesenszug unterstrichen.
Der irdische Teil mit den Hinweisen zur Ausgestaltung eines Aves-Geweihten am Spieltisch orientiert sich an den drei oben genannten Strömungen. Sehr unterschiedlich gestaltet sich das Verhältnis der Aveskirche zu den anderen Glaubensgemeinschaften. So gibt es eine natürliche Nähe zu den „elterlichen“ Kirchen von Phex und Rahja, während der gestrenge Praios und der blutdurstige Kor sehr distanziert betrachtet werden. Gelegentlich finden sich auch Domänenüberschneidungen, die aber zumeist eher freundschaftlich gestaltet sind, wie z.B. zur Efferdkirche in Bezug auf Seereisen.
II. Kritik
Vom Grundsatz her ist der Avesgeweihte unter denjenigen Charakteren, die ihr Leben einer Gottheit gewidmet haben, eines der dankbarsten Charakterkonzepte in Bezug auf die Frage der Kompatibilität zu einer Heldengruppe. Genau dieser Eindruck wird innerhalb des Vademecums hervorragend transportiert, liegt doch die Betonung allenthalben auf Wesenszügen wie Hilfsbereitschaft und Aufgeschlossenheit, allerdings eben nicht kombiniert mit der oft beschriebenen Weltfremdheit anderer Geweihter. Unterstrichen wird dies in dem wirklich hilfreichen Kapitel zur Ausgestaltung am Spieltisch, das verschiedene Typen vorstellt, die sehr leicht in Gruppen zu integrieren sind. Positiv ist dabei der Aspekt, dass nur wenig strikte Festlegungen vorhanden sind: Wer nicht den echten Paradiesvogel spielen möchte, entscheidet sich für den Stillen Wanderer. Wer keinen reinen Gutmenschen spielen möchte, kann seinem Charakter die rebellischen Tendenzen eines Predigers wider jeglicher Schollenbindung geben. Auch die typische Unstetigkeit kann mit der Wahl eines Weltsehenden relativiert werden.
Ohnehin fällt die Leichtigkeit in der Beschreibung auf: Da kaum eine echte Hierarchie und nur wenig konkrete Gegebenheiten wie Tempel existieren, wählt Daniel Simon Richter zumeist eine eher exemplarische Darstellung, die die Avesgeweihten sehr individuell wirken lässt. Unterstrichen wird dies durch eine sehr an Personen orientierte Erzählart. Mehr als in den anderen Bänden der Vademecum-Reihe werden konkrete Personen beschrieben, die ihr Leben entweder Aves gewidmet haben oder seinen Idealen nahestehen. Dabei werden auffällig viele Figuren der jüngeren Geschichte ausgewählt, die für die meisten Spieler vertraute Faktoren darstellen, eben in Form von prominenten Persönlichkeiten wie Phileasson oder Harika. Auch hier ist zudem eine deutliche Bandbreite erkennbar, von Händlern über Entdeckungsreisenden bis zu Mystikern sind unterschiedlichste Rollen vertreten.
So sehr mir die sehr flexible Gestaltung gefällt, sehe ich zumindest in einem Punkt aber auch einen gewissen Nachteil an dieser extremen Offenheit. Der Avesgeweihte bietet im Vergleich zu anderen Figuren wie den Geweihten von Göttern wie Boron, Praios, Kor oder auch Phex stellenweise zu wenig Ecken und Kanten. Die Übersicht am Ende zeigt zwar das Verhältnis zu anderen Kirchen auf, aber selbst zu den distanzierten Kirchen wie Praios oder Kor wird Konkurrenz nur angedeutet. Besonders augenfällig wird dieses vernachlässigte Konfliktpotential bei einigen Beispielen: So wird mehrfach angedeutet, dass eine starke Konkurrenz zu geschuppten Wesen existiert, dieser Aspekt wird aber kaum vertieft. Ebenso wird ein gewisses Misstrauen seitens der Obrigkeit zu den Geweihten des Aves erwähnt (vor allem im ländlichen Raum), die Rolle des lästigen oder gar gefährlichen Unruhestifters wird aber kaum vertieft.
Generell überwiegen aber die positiven Eindrücke, auch im Bereich der formalen Gestaltung. So lesen sich die Texte von Daniel Simon Richter flüssig und anschaulich, was zusätzlich durch die schönen Schwarz-Weiß-Illustrationen unterstrichen wird.
III. Fazit
Auch das Aves-Vademecum kann das generell gute Niveau der gesamten Reihe fortführen. Positiv fällt vor allem die Anschaulichkeit der Beschreibung mit vielen figurenbezogenen Beispielen auf, womit sehr vielfältige Charakterkonzepte vorgestellt werden. Als einzigen Kritikpunkt sehe ich das mitunter etwas vernachlässigte Konfliktpotential der Avesgeweihten.
Bewertung: 5 von 6 Punkten
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