Rezension: Die dampfenden Dschungel

Vorbemerkung: Oft wird – nicht ganz zu Unrecht – der etwas zähe Fortschritt im Bereich der Regionalspielhilfen beklagt. Umso schöner, wenn doch wieder ein Exemplar dieser Spezies erscheint. Den Anfang im schon fortgeschrittenen Jahr 2020 macht nun Die dampfenden Dschungel, die Regionalspielhilfe für den Tiefen Süden (ohne Al´Anfa) und die Waldinseln. Als interessant habe ich im Vorfeld vor allem die Ankündigung wahrgenommen, dass es das Ziel sei, die Region in der Beschreibung stark zu modernisieren, vor allem durch einen veränderten Blickwinkel, der auf die eher koloniale Wahrnehmung z.B. aus der Sicht eines typischen Mittelreichers als Norm verzichtet. Daneben erwarte ich natürlich in erster Linie, dass die Spielhilfe die Dschungel des Südens als spannendes Setting vorstellt und möglichst viele Abenteueranlässe bietet (also direkt aus dem Band, auch ohne zusätzliches Abenteuermaterial).

In Zahlen:

– 192 Seiten

– Preis: 39,95 Euro

– Erschienen am 2.9. 2020

I. Aufbau und Inhalt

Eine weitere Besonderheit stellt diesmal die enge Verknüpfung mit dem dazugehörigen Heldenbrevier und vor allem dem Abenteuerband Jadegrün und Kobaltblau dar, die einige neue Voraussetzungen schaffen, auf denen die Spielhilfe aufbaut. Somit werden an vielen Stellen auch völlig neuartige Inhalte berücksichtigt, womit sich sowohl im Band selbst als auch in dieser Rezension eine ausdrückliche Spoilerwarnung ergibt (vor allem für den Bereich der Kritik).

Zunächst erfolgt eine allgemeine Vorstellung der Dschungelgebiete, indem auf das Klima und die Wegführung eingegangen wird. Dem schließt sich eine grobe Unterteilung in Großräume an, konkret in Horobans Wälder, das Regengebirge, Trahelien und die Syllanische Halbinsel, die Piraten- und die Waldinseln. Folgend findet sich eine Kurzbeschreibung der wichtigsten Ortschaften, deren Zahl aber insofern überschaubar ist, als dass es kaum größere Städte gibt. Ausnahmen stellen Hot-Alem, Kuruke-Lahe und Tapam-Waba dar, die ausführlicher berücksichtigt wurden, also mit mehr Details in Form wichtiger Bauwerke und Stadtteile, zudem haben sie jeweils einen Stadtplan erhalten. Wie die vorherigen Regionalspielhilfen enthält auch diese einen konkretisierten Ort, der direkt spielbar ist. Hier handelt es sich um das Dorf Hapo-Nesha, das wahlweise so angelegt ist, dass es entweder eine Siedlung der Waldmenschen oder der Utulus ist, wobei einige Ortsbeschreibungen und die wichtigen NSC dementsprechend etwas variieren. Auch hier ist ein Plan des Dorfes hinzugefügt worden.

Die Kapitel Kultur und Wissenschaft und Handel und Wandel stellen viele Einzelaspekte des Zusammenlebens vor. Differenziert wird jeder einzelne Gesichtspunkt, also z.B. Kampfkunst und Kriegsführung oder Essen und Trinken, zwischen den unterschiedlichen Stämmen, primär zwischen den Sitten der Waldmenschen und den Utulus, oft werden aber auch Besonderheiten bestimmter Stämme angesprochen. Generell fällt dabei Handel und Wandel sehr kurz aus, aufgrund der Besonderheit, dass eine einheitliche Währung nicht vorhanden ist, ebenso existieren kaum Grenzen, die so etwas wie Steuern oder Zölle bedingen würden.

Im Bereich Flora und Fauna sind sowohl ein Bestiarium als auch ein kurzes Herbarium vorhanden. Neben allgemeinen Beschreibungen sind sowohl die Spielwerte für die Kreaturen als auch die Wirkungsbeschreibungen für die Kräuter und Gifte enthalten.

Götter und Dämonen widmet sich dem Bereich von Glauben und Aberglauben, was teilweise wieder zwischen den einzelnen Stämmen differenziert wird. Aber auch allgemeine Aspekte werden thematisiert, wobei natürlich der Jaguargott Kamaluq eine wichtige Rolle einnimmt. Zudem wird hier auf viele Besonderheiten eingegangen, z.B. den Glauben an die sogenannten Nipakau, die Ahnengeister oder generell das Konzept des Tabu, das für Waldmenschen und Utulus gleichermaßen bedeutend ist. Kleine Exkurse widmen sich auch Sondergruppen wie den Echsenmenschen.

Zauberei und Hexenwerk weist ebenfalls viele regionaltypische Besonderheiten auf, wie z.B. den Stamm der Darna, bei dem alle Mitglieder eine magische Begabung besitzen. Einen deutlichen Schwerpunkt stellt der Animismus dar.

Das Kapitel Rang und Namen führt die wichtigsten NSC der Region auf, wobei es sich um eine Mischung aus StammesführerInnen und SchamanInnen handelt. Neben den Waldmenschen und Utulus sind aber auch andere Kulturen berücksichtigt, z.B. wird der Fürstprotektor von Hot-Alem, Refardeon II. vorgestellt, ebenso werden auch echsische NSC berücksichtigt sowie Figuren, die als Entdecker und Forscher in den Dschungel vordringen.

Der Geschichte der Region widmet sich das Kapitel Mythos und Historie, wobei hier wiederum die Besonderheit ist, dass mangels einer schriftlichen Überlieferung bei den Waldmenschen und Utulus (mit einer Ausnahme) eine sehr lückenhafte Geschichtsschreibung vorliegt. Trotzdem werden hier von der Frühgeschichte bis zur aktuellen Jetztzeit einige Ereignisse herausgegriffen, wie üblich wird zudem antizipiert, was durchschnittliche HeldInnen über die Geschichte der Region wissen könnten.

Der Bereich Helden der dampfenden Dschungel stellt insgesamt 5 weltliche, 4 magische und 2 karmale Professionen vor. Hierbei handelt es sich ausschließlich um solche aus den Reihen der Waldmenschen und Utulus. Wie in den anderen Regionalspielhilfen sind zudem Würfeltabellen vorhanden, mit denen man die Vorgeschichte seiner Spielfigur ausgestalten kann. Zudem werden neue Waffen und Rüstungen (mit einer Übersichtsliste), Kampftechniken und Wesenszüge eingeführt. Für die Darna, Animisten und Schamanen finden sich zusätzlich neue Zaubertricks und -sprüche, Rituale, Liturgien und Zeremonien nebst Sonderfertigkeiten. Ebenso existieren neue Krankheiten und Gifte mit allen regeltechnischen Angaben.

Nach dem Index schließt der Band wie gewohnt mit dem Sonderkapitel Mysteria und Arcana, das sich vornehmlich an SpielleiterInnen richtet. Hier werden zunächst einige allgemeine Geheimnisse der Region thematisiert, die vieles von dem erläutern, was zuvor angesprochen wurde. Für die Echsenmenschen wird die verborgene Tempelstadt H´Rezxem vorgestellt (nebst einer Übersichtskarte). Für die NSC aus Rang und Namen sind wie immer zusätzliche Hintergründe vorhanden. Die Spielhilfe endet mit drei generischen Gegnern und deren Werten sowie einer Doppelseite mit skizzierten Abenteuervorschlägen.

II. Kritik

Schon der Blick auf das Cover mit der riesigen Spinne im Kampf mit den Skorpionen, der Schamanin und der Waldkulisse verspricht vieles, was man im Fantasybereich von einer Dschungelspielhilfe erwartet: exotische Abenteuer vor einem lebensfeindlichen Hintergrund. Genau das hält der Band vollends ein, indem viele teils sehr unterschiedliche Orte, Kreaturen und vor allem die Lebensweise der Dschungelbewohner vorgestellt werden. Vieles davon ist direkt mit Abenteueranregungen verbunden, so dass SpielleiterInnen alleine mit dem vorliegenden Band enorm viel Stoff zur Verfügung haben, um ihre Heldengruppen darin zu involvieren.

Allerdings birgt dies natürlich auch die Gefahr, dass klassische Klischees bedient werden, vor allem, dass es sich um eine Region von unzivilisierten Wilden handelt, die eine Kontrastkulisse zum Rest Aventuriens bilden, wobei die Bewohner als unberechenbar und ungebildet, wahlweise als Schwertfutter mit Heimvorteil oder als zu rettende Opfer von Sklavenhaltern angelegt sind. Genau hier fällt allerdings sehr deutlich auf, dass sehr bewusst darauf geachtet wurde, dies zu vermeiden. Die angesprochenen Klischees sind zwar durchaus noch vorhanden, aber im Prinzip nur noch in wenigen Ingame-Texten aus der Sicht von anderen Aventuriern, wobei z.B. Vorurteile eines Al´Anfaners logisch erklärbar sind. Der gesamte Spielhilfenbereich jedoch hält konsequent die Perspektive der Waldmenschen und Utulus bei, indem deren Lebensweise eben nicht aus einer quasi-kolonialen Sicht betrachtet wurde, also nicht z.B. mit den Augen eines mittelreichischen Entdeckers oder Schatzjägers geurteilt wird. Dabei wird der Fokus darauf gelegt, Waldmenschen und Utulus nicht als unterlegen darzustellen, sondern auf Augenhöhe. Auffällig ist dabei eine starke Differenzierung, indem viele Besonderheiten der einzelnen Stämme aufgeführt werden, die damit viel Profil erhalten, was auch durch die NSC unterstrichen wird. Etwas ungünstig ist dabei stellenweise die Entscheidung, nicht die Stämme den Kapiteln voranzusetzen, sondern die oben angesprochenen Einzelaspekte, woraufhin dann zwischen den Stämmen unterschieden wird. Das mag zwar von der Ordnung her logisch bedingt sein, mindert allerdings den Nutzen des Bandes als Nachschlagewerk. Auch mit den Professionen wird eine große Bandbreite bedient, gerade auch mit den karmalen und magischen Professionen sollen ebenbürtige Gegenstücke zu denen der nördlichen Kulturen geschaffen werden.  Ganz generell fällt auf, dass hier durchweg ausdifferenzierte Gesellschaften gezeigt werden. Ob das auch dem Anspruch einer vollkommenen Reduktion von marginalisierenden Beschreibungselementen entspricht, wie es das Ziel war, maße ich mir allerdings als nichtbetroffene Person nicht zu bewerten an, habe aber durchaus einen positiven Grundeindruck.

(Spoilerbeginn) Das Glanzstück des Bandes ist dabei eindeutig die Einführung des Stammes der Tapo-Tikaute und ihrer unterirdischen Stadt Kuruke-Lahe. Hier wird zunächst einmal ein echter Mehrwert geschaffen, der innerhalb der Spielhilfe an verschiedenen Stellen viel Raum einnimmt. Allein die Stadt selbst mit ihrer Lage und ihrer fantastischen Bauweise ist eine geniale Idee, die enorm viele neue Möglichkeiten für Abenteuer bietet. Zudem wird hier dem Setting eine mächtige Hochkultur hinzugefügt (die sicher nicht von ungefähr einige Assoziationen zu Wakanda erzeugt), die in die Zukunft epische Handlungsstränge mitgestalten kann und auch eine echte Innovation im Rahmen des Metaplots darstellt. Somit werden auch neue Facetten hinzugefügt, beispielsweise auch die Verwendung von Metall für Rüstungen (durch die Besonderheiten der Legierung können sogar magiebegabte Figuren in voller Rüstung agieren, was allerdings nirgendwo exakt erläutert wird), was es beispielsweise ermöglicht, auch einen Waffenschmied als Profession einzugliedern. Somit wird auch eine sinnhafte Einbindung von Brevier und dem Begleitabenteuer geleistet, dieses Experiment empfinde ich als außerordentlich gelungen (was ich allerdings in den entsprechenden Rezensionen genauer ausführen möchte und nicht hier). Damit wird auch erreicht, dass die gravierende Neuerung innerhalb des Settings glaubhaft herbeigeführt wird. (Spoilerende)

Was allerdings auch aus diesen positiven Aspekten des Bandes resultiert, ist dass durch den extremen Fokus auf die Waldmenschen und Utulus alle anderen Gruppierungen auf der Strecke geblieben sind. So stellen die Piraten der Region einen absoluten Randaspekt dar, der lediglich gelegentlich in Nebensätzen angesprochen wird. Allerdings vermute ich, dass diese in der irgendwann folgenden Al´Anfa-Spielhilfe eine Rolle spielen dürften. Was ich allerdings sehr bedauerlich finde, ist dass die Achaz ebenfalls sehr stiefmütterlich behandelt werden, womit ich die Chance auf eine noch phantastischere Regionalbeschreibung etwas verpasst sehe, indem eine der wenigen bedeutenden nichtmenschlichen Spezies, die in Aventurien relevant ist, kaum berücksichtigt wird. Hier finden sich lediglich zwei NSC in Rang und Namen und die Beschreibung von H´Rezxem im Anhang. Den entsprechenden Text empfinde ich zwar als sehr gelungen (vor allem auch für Kenner der Phileasson-Saga, die hier klar eingebunden wird), trotzdem ist es extrem wenig Platz, der den Achaz insgesamt eingeräumt wurde. Sicherlich liegt das auch daran, dass bislang noch keine Regeln für Achaz als spielbare Spezies existieren, was wahrscheinlich an anderer Stelle in Zukunft geleistet werden soll. Trotzdem stellt das für mich hier schon eine Einschränkung dar.

III. Fazit

Die dampfenden Dschungel ist eine gelungene Regionalspielhilfe, die vor allem neue Perspektiven auf die Stämme der Waldmenschen und Utulus schafft und deren Kulturen vieles an alten Klischees und Einschränkungen nimmt. Eine zentrale Settingänderung sorgt zudem für einen echten Mehrwert im Vergleich zu den vorherigen Regionalbeschreibungen und für völlig neue Spielmöglichkeiten. Etwas schade ist, dass dafür andere Settingelemente völlig in den Hintergrund rücken, z.B. der Einfluss der Achaz in der Region.

Bewertung: 5 von 6 Punkten

2 Kommentare

  1. Tolle Rezi, tolle Spielhilfe! Ganz subjektiv die Beste bisher. Ging mir ganz ähnlich beim Lesen wie Dir, wobei für mich eine ausführlichere Beschreibung von Gulaghal (wenn man die zentrale Bedeutung für alle Waldmenschen bedenkt), allgemein weniger Kolonialhäfen (8 der 16 Orte, ich habe gerade mal nachgezählt) und dafür mehr Waldmenschen- und Utulusiedlungen im Städte-und-Dörfer-Kapitel und vor allem eine bessere Unterscheidung der Utulu-Kulturen von den Waldmenschen das i-Tüpfelchen gewesen wären.

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