Offene Rechnungen

Vorbemerkung: Anders als im vergangenen Jahr habe ich mich bemüht, die Publikationen von 2022 bis zum Jahresende zu besprechen. Das hat auch grundsätzlich funktioniert, allerdings mit einer Ausnahme. Der neue Roman aus der Fanpro-Reihe kam erst kurz vor Weihnachten an, was bei mir dann auch noch mit einer erkältungsbedingten Krankheitsphase zusammenfiel. Dabei habe ich mich gerade auf diesen Roman besonders gefreut, handelt es sich doch bei Offene Rechnungen um das jüngste Werk von Ina Kramer, die somit nach ihren Comeback als DSA-Autorin weiterhin fleißig tätig ist. Interessanterweise ist es kein vollständig eigenständiger Handlungskomplex, sondern knüpft unmittelbar an die Handlung von Das Chimärenkomplott an.

In Zahlen:

– 515 Seiten

– Preis18,95 Euro

– Erschienen am 22.12. 2022

I. Aufbau und Inhalt

Allerdings ist es eine reduzierte Fortsetzung, denn es wird nicht das Schicksal aller beteiligen Figuren aus dem Vorgänger aufgegriffen, sondern ein Handlungsstrang im Speziellen herausgegriffen. Am Ende von Das Chimärenkomplott bleibt offen, was eigentlich aus Hayatepe-Ha geworden ist, der mit der Thorwalerin Eldgrimma in der Gefangenschaft den gemeinsamen Sohn Grimmo gezeugt hat und der danach von der Chimärologin Pandomira entlassen wurde. Also beschließen Mutter und Sohn, sich an seine Spuren zu heften, wobei weitere Anlaufstationen nur sehr vage zu erahnen sind.

Somit ergibt sich für Eldgrimma und Grimmo kein klarer Weg, stattdessen gilt es für die beiden zunächst, etwas Geld zu verdienen. Dabei gelingt es ihnen, bald eine Anstellung zu finden, indem sie den Schriftgelehrten Irenäus und den bekannten Künstler Torgil als Geleitschutz begleiten. Mit von der Partie ist zudem dessen schweigsamer Kutscher Quirinion, der scheinbar mit Pferden weitaus besser zurechtkommt als mit menschlichen Begleitern.

Der Reiseweg erweist sich schnell als nicht ganz ungefährlich, indem die Gruppe zunächst am Ufer des Neunaugensees entlangreitet und anschließend das nicht minder unheimliche Nebelmoor durchqueren will. Somit bleiben merkwürdige Geschehnisse, von denen unheimlicher Nebel noch das harmloseste Phänomen ist, nicht aus. Ein Augenmerk liegt zunächst auf der Vorstellung der erwähnten Kernfiguren, u.a. müssen Grimmo und Eldgrimma sich nach den vielen Jahren der Trennung weiterhin kennenlernen, die lange Periode der Gefangenschaft sorgt zudem dafür, dass für Grimmo vieles erläuterungsbedürftig ist, was aventurische Gepflogenheiten, Geschichte und Geographie angeht (womit dies gleichermaßen auch den Leser*innen vermittelt werden kann).

Allerdings gibt es auch konkrete Ereignisse, die die Dramaturgie anwachsen lassen und die vor allem die Konsequenz haben, dass die Reisegruppe aufgesplittet wird, was wiederum dazu führt, dass viel über das Schicksal der anderen Figuren spekuliert wird und Pläne zu deren Rettung geschmiedet werden müssen. Eine Kernrolle nimmt hier Lowangen ein, eines der eigentlich geplanten Ziele von Irenäus und Torgil. Just dort soll sich auch eine Person befinden, die im Vorgängerroman Grimmo käuflich erwerben wollte und bereit war, dafür viel Geld auf den Tisch zu legen. Ab der Trennung spaltet sich die Handlung in mehrere Stränge auf, die abwechselnd aufgegriffen werden.

Ein weiterer solcher Handlungsstrang ergibt sich allerdings schon von Anfang an, indem auch immer wieder in Rückblenden erzählt wird, wie es Grimmos Vater Hayatepe nach dessen Aussetzung ergangen ist. Hierbei gibt es einen sehr ungewöhnlichen Erzähler, der auch als Bindeglied zu den anderen Erzählteilen fungiert: Dabei handelt es sich um den Kobold Poldi, der immer wieder zwischen den einzelnen Figuren hin- und herspringt und den Fortgang schildert.

II. Figuren

Wie in ihren vorherigen DSA-Romanen entwickelt Ina Kramer ein eher ungewöhnliches Figurenensemble. Aus dem Vorgängerroman bereits bekannt ist ja das mittlerweile eingeschworene Mutter-Sohn-Duo Eldgrimma und Grimmo. Letzterer macht sich mehr und mehr mit den Gepflogenheiten Aventuriens vertraut und zeigt dabei seine charakteristische Mischung aus Naivität und rascher Auffassungsgabe (unter anderem lernt er in Rekordtempo Lesen und Schreiben). Eldgrimma bleibt weiterhin die polternde Thorwalerin, die aber über ein sehr weiches Herz verfügt, vor allem was ihren Sohn betrifft. In den Rückblenden wird zudem deutlich, dass Hayatepe und sein Sohn viele Eigenschaften teilen, wenn er stoisch den Unwägbarkeiten der für ihn völlig fremden Umgebung begegnet.

Irenäus, Torgil und Quirinion sind gerade im ersten Romandrittel schwerer zu greifende Figuren, da anfangs noch nicht klar ist, wie ihre Rollen angelegt sind, zwischen Helfern, Mentoren und Antagonisten erscheint vieles denkbar und dies verfestigt sich erst gegen Romanmitte.

Im Laufe der Handlung ergeben sich zudem noch viele weitere Nebenfiguren, die vor allem in ihrer Wirkung auf die Protagonisten ihre Funktion entfalten. Eine Sonderrolle nimmt natürlich zuletzt Poldi ein, der als Erzähler eine gewisse Distanziertheit aufweist, wenn er das für ihn teilweise merkwürdig anmutende Verhalten der Figuren schildert. Zudem ist er keine passive Rolle, sondern greift teilweise auch aktiv in das Geschehen ein, ohne sich allerdings den anderen gegenüber zu offenbaren.

III. Kritik

Ich denke, die oben angeführten Handlungselemente und Figuren lassen schon deutlich erkennen, dass Ina Kramer weiterhin ihrer erzählerischen Linie treu geblieben ist. Erwartbar bleibt vor allem das Unerwartete, Pläne der Figuren (und davon werden im Laufe der Handlung sehr viele geschmiedet) haben nie lange Bestand, sondern werden ständig über den Haufen geworfen, z.B. durch sich ständig verändernde Ausgangssituationen. So scheint es recht schnell wieder um eine Befreiungsaktion zu gehen, was sich jedoch irgendwann auch wieder verändert. Ebenso ändern sich gerade die örtlichen Ziele immer wieder, während die voneinander getrennten Figuren dauernd darüber spekulieren, wo sich die anderen jeweils befinden könnten und mit wem sie sich als nächstes auseinandersetzen müssen.

Somit ergibt sich auch diesmal keine epische Heldengeschichte, in der es finsteren Schurken an den Kragen gehen soll (auch wenn es diese durchaus gibt und sie zumindest teilweise auch ihr verdientes Schicksal erfahren). Vielmehr ist die Figurenebene wieder sehr dominant, indem die sich wandelnden Beziehungen der Charaktere untereinander im Vordergrund stehen, die ebenfalls nicht immer konstant sind, sondern durchaus Veränderungen unterworfen sind. Hier ergibt sich für mich eine der großen Stärken des Romans, denn trotz des wirklich sehr gemächlichen Handlungsfortschritts ist mir das Kernensemble schnell ans Herz gewachsen, auch wenn gerade die ständige Tendenz zu sich ändernden Meinungen manchmal sehr irritierend wirkt und man sich fragt, warum nicht wenigstens ab und an mal ein Plan konsequent umgesetzt wird.

Speziell ist auch der sehr detaillierte Schreibstil von Ina Kramer, indem auch kleinere und eher nebensächlich wirkende Begebenheiten oft mehrere Seiten einnehmen, zudem wird gerade in der ersten Romanhälfte vergleichsweise selten auf Raffungsmittel zurückgegriffen, im Gegenteil knüpfen die einzelnen Kapitel häufig unmittelbar aneinander an. So erhält man ein sehr klares Figuren- und Umgebungsbild, also auch eine sehr dichte Atmosphäre (z.B. in der Beschreibung des unheimlichen Nebelmoors), dafür aber eben auch eher zögerliche Gesamtfortschritte. Trotzdem gefällt mir die Geschichte insgesamt gut, auch wenn mir nicht jedes Handlungselement gefällt, was v.a. für eine Vergewaltigungsszene gilt, die für mich nicht unbedingt notwendig ist, auch wenn ich deren dramaturgische Funktion verstehen kann.   

Was man hier ein weiteres Mal verspürt, ist die sehr umfassende Kenntnis der Autorin von der Fantasywelt, die sie selbst von ihren Anfängen an mitgeprägt hat. Aventurien wird hier sehr greifbar, u.a. was Örtlichkeiten und deren Besonderheiten angeht (eben vor allem der Neunaugensee und das Nebelmoor), aber auch die magische/fantastische Natur des Settings. Denn auch, wenn die Handlung oft eher bodenständig ist, gibt es viele Elemente, die eben nicht profan sind, z.B. wenn die Gruppe neben dem Kobold noch viele weitere Fantasywesen trifft. Dabei lässt Ina Kramer die Leser*innen aber teilweise offenbar bewusst im Dunklen, um was für Erscheinungen es sich teilweise gehandelt hat, ob es z.B. gute oder böse Kräfte sind, die urplötzlich als Nothelfer auftreten, deren Hilfe aber auch einen klaren Preis hat. Und nicht zuletzt hat auch die Kreatur auf dem Cover einen imposanten Auftritt.

Die Möglichkeiten eines Kleinverlags merkt man dann allerdings doch deutlich im Lektorat, gerade in der zweiten Hälfte des Romans häufen sich die Fehler, z.B. fehlende Buchstaben. Ein weiterer Durchgang im Korrektorat wäre dort wünschenswert gewesen.  

IV. Fazit

Offene Rechnungen ist ein gleichermaßen kluger wie unkonventioneller Roman, der immer wieder mit den Erwartungshaltungen bricht und mehrfach neue Wendungen einführt. Epische Handlungen ergeben sich dabei weniger, stattdessen nimmt man vor allem am Schicksal der interessanten Figurenriege Anteil, worin auch die größte Stärke liegt. Vor allem hoffe ich, dass dies nicht der letzte Roman von Ina Kramer sein wird, sondern sie vielleicht noch die eine oder andere Geschichte zu erzählen hat.                                  

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