Retro-Check: Straßenballade

Vorbemerkung: Hin und wieder versuche ich noch vorhandene Lücken in meinem DSA-Schrank zu füllen. Letzte Woche habe ich auf diese Weise in einem bekannten Online-Auktionshaus einen absoluten Solo-Klassiker erstanden: Straßenballade von dem leider viel zu früh verstorbenen Karl-Heinz Witzko. Mit dessen Abenteuern habe ich als Jugendlicher meist schwer gehadert, mutmaßlich auch, weil mir damals sowohl die DSA-Hintergrundkenntnisse als auch das Verständnis für doppeldeutigen Humor gefehlt hat. Vor einiger Zeit habe ich mich ja schon ein zweites Mal an Auf der Suche nach einem Kaiser herangewagt, nun versuche ich es nochmal mit seinem Erstlingswerk. Ein gutes Vorzeichen: Als ich das Abenteuer das letzte Mal in Händen hielt, war ich 14, jetzt bin ich 2×14 Jahre älter, das sind doch günstige Voraussetzungen für einen Ausflug nach Maraskan.

In Zahlen:

– Abenteuer Nr. 37

– Stufen: 1-6

– 55 Seiten

– 429 Abschnitte

– Erschienen 1993

I. Aufbau und Inhalt

Das Abenteuer beginnt mit einem längeren Einführungstext, der zunächst eine heimelige Lagerfeuerszene in den Mittelpunkt stellt, in der der Spielercharakter mit einigen Gefährt*innen zusammen Lieder singt. Durch einen Alptraum wird man jäh aus der Szene gerissen und findet sich allein in einem Wirtshaus wieder, allerdings versehen mit einer Einladung des Landadeligen Gerio. Da es nicht Besseres zu tun gibt, führt der erste Weg zu Gerios Anwesen in das ländliche Nostria.

Nach einigem Herumfragen findet man Gerio tatsächlich und zügig ergibt sich der Entschluss, gemeinsam die Hauptstadt Nostria aufzusuchen. Allerdings kommt eine Verletzung Gerios dazwischen, so dass man auf seine Bitten alleine dorthin reisen soll, um eine Depesche abzugeben. Zudem hört man das erste Mal von der berühmten Bardin Dalusia Pernstein, deren Lieder allgegenwärtig sind.

Somit wächst in Nostria auch der Entschluss, eine Art persönliche Queste auf sich zu nehmen und einem Rätsel auf die Spur zu kommen, indem man feststellt, dass Dalusia verschwunden ist. Befördert wird dieser Wunsch noch durch das Zusammentreffen mit dem abenteuerlustigen Prinzen Kasparbald, den es von Nostria wegzieht, um die große weite Welt kennenzulernen und der sich dazu den Spielercharakter als Begleitung auserkoren hat. Folgend ergibt sich ein Reiseabenteuer, das von Nostria unter anderem nach Kuslik und nach Tuzak, also auf die Insel Maraskan führt. Dort stellt man schließlich auch fest, dass das Verschwinden keine harmlosen Hintergründe hat, sondern man auch mit finsteren Mächten konfrontiert wird.

Was in der Zusammenfassung gradlinig klingt, ist es aber mitnichten. Die Geschehnisse finden nicht allzu stringent statt, sondern werden immer wieder unterbrochen von kuriosen Begegnungen mit oft sehr kauzigen NSC, ebenso vermischen sich Traum und Realität mehrfach, wenn man sich plötzlich in Alpträumen wiederfindet. Zudem besteht das Abenteuer weniger aus langen Abschnitten, sondern aus über 400 oft eher kurzen Textpassagen, die somit weit verzweigt sind und es nicht selten mehrere Wege zum nächsten Ziel gibt und man bei einem Spieldurchgang auch längst nicht alle Subplots erlebt. In diesen kann man unter anderem in Intrigen in den Streitenden Königreichen verwickelt werden, ebenso kann man die brisante Bekanntschaft von einflussreichen Meuchlerorganisationen machen.

Falls man auf keinen eigenen Spielcharakter zurückgreifen kann, befinden sich im Abenteuer die Werte für einen Charakter namens Bjarn-Fjodor Hjasenspaten bzw. seine Schwester Jelspeth, nebst Angaben zu benötigten Talenten und entsprechenden Steigerungsoptionen.

II. Figuren

Im Ganzen ist das Abenteuer ausgesprochen reich an Figuren, allerdings gibt es nur wenige, die für mehr als nur ein paar Abschnitte relevant sind. Zuerst ist natürlich Gerio zu nennen, der als erster Auftraggeber fungiert. Als konkreter Begleiter ist allerdings Kasparbald deutlich relevanter. Der junge nostrische Erbprinz ist zwar einerseits ein launischer und verwöhnter Jüngling, andererseits sorgt er auch für die eine oder andere interessante Wendung. Hinter allem steht zuletzt Dalusia, die allerdings lange Zeit eher so etwas wie eine Legende darstellt, die aber nicht greifbar ist.

III. Kritik

In einer Hinsicht trügt meine Erinnerung nicht bzw. bleiben die Eindrücke auch nach knapp 30 Jahren konstant: Straßenballade ist „ein echter Witzko“! Wer sich auf das Abenteuer einlässt, erlebt eine ausgesprochen ungewöhnliche Reise, die inhaltlich wie stilistisch einzigartig ist, vergleicht man sie mit den meisten anderen, „konventionellen“ Soloabenteuern. Man besucht beispielsweise nicht einfach einen alten Freund, sondern kann unter anderem zunächst auf einen Namensvetter Gerios treffen, der aber durch ein Missverständnis denkt, man hätte ein gleiches Ziel, weshalb man ein Stück mit ihm geht. Das ist nur eine kleine Episode von vielen, die dafür sorgen, dass es sich eben nie um eine gradlinige Suche handelt. Zudem spielen Zufälle nicht selten eine große Rolle, indem man immer wieder in weitere Situationen hineingerät, die verursachen, dass man einen klaren Weg aus den Augen verliert.     

Das liegt auch an den Figuren, die oft derart kauzig angelegt sind, dass sie meist schwer greifbar sind. In der Regel werden solche Figuren nicht ausführlich vorgestellt und mit einer gründlichen Hintergrundgeschichte ausgestattet, sondern der Spielercharakter stolpert in sie hinein und sie fordern direkt irgendwelche Handlungen ein (stellenweise fühlt man sich an die Filme der Coen-Brüder erinnert), was dazu führt, dass man schnell zu einer getriebenen Figur mutiert.

Das bringt aus meiner Sicht Vor- und Nachteile mit sich. Nachteilig ist, dass man stellenweise Entscheidungen trifft, die eigentlich schwer nachvollziehbar sind. Unter anderem gilt dies für die Motivation, sich auf die Spur einer wildfremden Bardin zu begeben, von der eingangs noch nicht einmal klar ist, ob diese sich überhaupt in Schwierigkeiten befindet. Umgekehrt ist das dafür aber sehr unterhaltsam und abwechslungsreich. Denn trotz der angesprochenen Getriebenheit hat man unheimlich viel Einfluss auf den Fortgang der Handlung, indem man ständig unterschiedliche Optionen für das weitere Vorgehen angeboten bekommt, was dann zwar letztendlich wieder zu den notwendigen Gelenkstellen führt, den Weg dorthin aber oft höchst unterschiedliche gestaltet. Das erhöht unter anderem auch den Wiederspielwert des Abenteuers, da man nach einem Durchlauf fast unmöglich schon alle Plotfäden gesehen haben kann.

Dabei kann man das Abenteuer aber definitiv nicht auf seine kuriosen Ideen reduzieren, gerade in der zweiten Hälfte, vor allem sobald man Maraskan erreicht, werden die Hintergründe auch immer ernster und tragischer, zudem musss man sich nicht selten Auseinandersetzungen stellen, die natürlich auch tödlich verlaufen können (auch wenn das Abenteuer keineswegs unfair angelegt ist). Die vielen Ortswechsel und Begegnungen mit unterschiedlichen NSC sorgen allerdings für eine gewisse Oberflächlichkeit bzw. Undurchsichtigkeit, denn am Ende hat man sicherlich nicht alle durchschaut (gerade auch, weil viele Anspielungen auf irdische wie auch aventurische Geschehnisse enthalten sind).

Ich muss gestehen, dass ich persönlich weiterhin nicht unbedingt der allergrößte Fan des Stils von Karl-Heinz Witzko bin, letztlich gefallen mir Abenteuer mit einer eindeutigeren und klaren Geschichte, die nicht so verwinkelt ist, einfach besser, gerade das Wandern zwischen Realität und Traum ist ohnehin nicht mein liebstes Thema. Als Leser hingegen kann ich mich nicht dem einzigartigen Schreibstil entziehen. Karl-Heinz Witzko beherrschte das Spiel mit den Erwartungshaltungen seiner Leser*innen extrem gut, indem immer wieder mit Erzählkonventionen gebrochen wird und ein oft fließender, fast unmerklicher Übergang ins Surreale stattfindet. Das ist – zumindest in der DSA-Historie – ziemlich einzigartig und sorgt dafür, dass diese Abenteuer nachhaltig in Erinnerung bleiben (und auch heute noch einen Blick wert sind).      

IV. Fazit

Straßenballade ist ein spannendes und abwechslungsreiches Soloabenteuer, das eine gleichermaßen kuriose wie auch ernsthafte Geschichte erzählt, die reich an surrealen Momenten und Begegnungen ist. Die Handlungsmotivation ist dabei nicht immer ganz nachvollziehbar, dafür hat man oft viel Gestaltungsfreiheit, indem viele Optionen für das weitere Vorgehen angeboten werden.

Bewertung: 4 von 6 Punkten         

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