Retro-Check: Die Kanäle von Grangor

Vorbemerkung: Die Götter Aventuriens sind – anders als im Fall von irdischen Religionen – Entitäten, für deren Existenz und Wirken tatsächliche Zeugnisse existieren und die auch realen Einfluss auf die derischen Geschehnisse haben. Allerdings ist dieser Einfluss in den meisten Abenteuern eher indirekt, indem z.B. Geweihte deren Willen deuten und dementsprechend handeln.  Persönliche Begegnungen finden eigentlich nicht mehr statt, die Götter stehen eher für Prinzipien und bestimmte Einflussgebiete. In den Gründerjahren von DSA war dies noch anders, in bestimmten Ausnahmefällen (wenn auch selten) konnte man Zeuge von direktem göttlichen Eingreifen werden und sogar in eine Art von Kommunikation treten. Ein erstes Beispiel für ein solches Abenteuer ist Die Kanäle von Grangor von Ulrich Kiesow. Anlass dieser Rezension ist die im Dezember veröffentlichte Neuauflage des Abenteuers.

In Zahlen:

– 28 Seiten

– Preis: 12,95 Euro

– Erschienen 1988 bzw. 19.12. 2022 (als Neuauflage)     

I. Aufbau und Inhalt

Das Vorwort skizziert den groben Ablauf der folgenden Geschehnisse und weist mehrfach auf die Besonderheit hin, indem hier ein Abenteuer beinhaltet sei, was „zu den überraschendsten gehören dürfte, die sich je in Aventurien ereignet haben“.

Die eigentliche Handlung beginnt mit einer Finte, indem die Heldengruppe unter falschen Vorzeichen nach Grangor gelangen und somit einen völlig anderen Auftrag erhalten soll, der später keine Rolle mehr spielen dürfte. Wichtigster Aspekt dieses Subplots ist, dass die Gruppe auf diese Weise zum Rahjatempel der Hafenstadt gelotst werden soll. Dort werden sie Zeugen einer Vision der Liebesgöttin persönlich, die ihnen ankündigt, bald ihre Dienste zu benötigen.

Und tatsächlich lässt dieser Moment nicht allzu lange auf sich warten, denn nur wenige Augenblicke später wird die gesamte Stadt von einem gewaltigen Sturm zerstört, wobei sämtliche Einwohner*innen ihr Leben lassen müssen, was natürlich auch für die Spielercharaktere gilt. Doch selbstverständlich ist an dieser Stelle nicht das Ende gekommen, vielmehr finden sich die Held*innen plötzlich zusammen mit einigen anderen Personen (die ebenfalls bei der vorherigen Erscheinung anwesend waren) im Tempel wieder. Wiederum offenbart sich ihnen Rahja, die verrät, dass einige andere Mitglieder des Pantheons der Zwölfe die Stadt aufgrund gottloser Umtriebe zum Untergang verdammt haben. Rahja hingegen ist nicht so hartherzig und somit gewährt sie den Auserwählten eine letzte Gnadenfrist. Wenn es ihnen gelingt, die Wurzel des Unheils zu finden, kann die Stadt gerettet werden. Dazu hat sie die Zeit angehalten, wodurch man sich ungestört von allen anderen Leuten (die erstarrt sind) durch die Gassen und Kanäle Grangors bewegen kann. Allerdings ist man nur mit eher vagen Hinweisen ausgestattet, was genau es zu suchen gilt.

Folgend wird grob skizziert, was man auf der Erkundungstour alles entdecken kann (aufgrund der Kürze des Heftes allerdings sehr grob). Letztlich kristallisieren sich zwei Gebäude heraus, die es genauer zu erforschen gilt. Dazu existieren die entsprechenden Gebäudepläne (die in der Neuauflage allerdings versehentlich nicht mit abgedruckt wurden) und die Beschreibungen der Räumlichkeiten. Im Anhang sind zudem die Werte und kurze Charaktersierungen der relevanten NSC vorhanden (vornehmlich die Personen, die ebenfalls durch die Vision von der Zeitstarre ausgenommen wurden).

II. Figuren       

Die Begegnung mit einer Göttin überstrahlt natürlich alles. Auch wenn Rahja sich „nur“ in der Gestalt einer Statue offenbart, ist sie doch persönlich die Auftraggeberin, womit sich die Spielercharaktere tatsächlich als Auserwählte der Liebesgöttin fühlen dürfen.

Neben ihnen betrifft dies noch einige weitere Personen. Die Führungspersönlichkeiten unter diesen sind die Leiterin des Tempels Laetia und Merisa, die Kapitänin einer Schiffsmannschaft, die ebenfalls anwesend ist und somit quasi eine zweite Heldengruppe leitet, die eigenständig in der Stadt unterwegs ist.

II. Kritik

Ich bin explizit kein Freund von aventurischer Hotzenplotzigkeit (auch wenn natürlich kleinere Plots genauso ihre Daseinsberechtigung haben), einen gehörigen Schuss Epik halte ich für absolut reizvoll und gleichermaßen auch notwendig. Und gerade Angesichts der Setzung, dass die Götter Aventuriens real sind, ergibt es für mich auch Sinn, diese ab und an direkt auftreten zu lassen, hier bin ich beispielsweise ein großer Fan der griechischen Sagen, in denen Zeus, Hera und Co. als Figuren selbst auftreten. Tatsächlich finde ich es sehr schade, dass es insgesamt bei sehr wenigen solcher Abstecher der Alveranier geblieben ist, somit ist Die Kanäle von Grangor eine echte Rarität.

In der Umsetzung ist das Abenteuer theoretisch sehr ambitioniert: Im Grunde genommen steht eine gesamte Stadt als Schauplatz zur Verfügung, die in völliger Erstarrung begriffen ist. Praktisch hingegen ist dies extrem grob umgesetzt, denn mit lediglich 28 Seiten handelt es sich sogar für DSA1-Verhältnisse um eines der kürzeren Abenteuer. Dementsprechend gibt es lediglich ein paar beispielhafte Beschreibungen, wie sich die erstarrte Stadt gestaltet. Etwas Augenmerk wird auf die Gefahr gelegt, die von den Kanälen ausgeht, da das Element Wasser von Efferd kontrolliert wird und dieser an der Zerstörung Grangors beteiligt war, demzufolge also diesmal Rahja eher antagonistisch gegenüber steht. Das ist grundsätzlich ein reizvoller Einfall, da ein Fall ins Wasser allerdings extremen Schaden verursacht, kann hier die Reise aber auch sehr schnell vorbei sein. Im Endeffekt bleibt eigentlich nur Raum für die Beschreibung zweier Örtlichkeiten. Diese sind durchaus mit einigen Herausforderungen und kleinen Rätseln verbunden, so dass es dort etwas zu tun gibt. Trotzdem ist hier die Löwenarbeit auf die Spielleitung übertragen worden. Aus der Situation lässt sich selbstverständlich mit etwas Kreativität viel machen, das Abenteuer selbst bietet aber sehr wenig Unterstützung an. So ist ein Problem auch, dass Grangor eigentlich sehr leer ist.

Nicht gut umgesetzt ist der Umgang mit den NSC. Die anderen Zeugen der Vision sind vor allem Mittel zum Zweck, sie sollen einerseits die Gefahren der Stadt vor Augen führen (indem sie ihnen zum Opfer fallen) oder als Nothelfer dienen, falls die Heldengruppe in der Recherche Probleme hat. Das Hauptquartier der Gegner ist dafür eher leer und auch deren Anführer stellt allein für eine mehrköpfige Heldengruppe kaum eine Herausforderung dar. Die eigentliche Drahtzieherin stirbt sogar durch eigene Unvorsichtigkeit und wird deshalb nur noch tot aufgefunden. Das halte ich für die denkbar schlechteste Lösung, aus meiner Sicht sollte sich daraus immer eine Aufgabe für die Spielercharaktere ergeben. Zumal es schlicht auch eine schwache Erklärung für ihr Ableben ist, dass sie einfach eine Falle vergessen hat.

Historisch interessant ist das Abenteuer sicherlich auch, weil hier ein erstes Mal der Namenlose und seine Anhänger als direkte Gegner auftauchen. Natürlich ist der Hintergrund bei weitem noch nicht so ausdifferenziert wie heute und im Prinzip ist auch ein gewisser Widerspruch aufgebaut worden, weil in folgenden Abenteuern nie wieder davon die Rede ist, dass die Zwölfe derart massiv gegen seine Umtriebe vorgehen.

Ein klarer Kritikpunkt an der Neuauflage ist für mich zuletzt eindeutig das Fehlen der Karten. Hier ist  mir wirklich schleierhaft, wie so etwas Elementares vor dem finalen Druck übersehen werden konnte (und ebenso vor der Auslieferung). Zwar gibt es als Ersatz einen Download, aber eigentlich müssen die Karten als Bezahlinhalt dem Abenteuer beiliegen, soviel Qualitätsmanagement erwarte ich schlichtweg.

Generell halte ich es für schade, dass nicht derselbe Ansatz wie beim DSA3-Doppelband Die Geheimnisse von Grangor gewählt wurde, in dem das vorliegende Abenteuer mit Die Bettler von Grangor in einem Band zusammengeführt wurde, da sich beide Handlungen gut ergänzen und auch Mehrwerte bieten (damals in Form von einigen Zusatzszenarien). Hier ist mir aber klar, dass das sicherlich sowohl Rechteprobleme mit sich bringen könnte als auch, dass diese Reihe ja explizit DSA1-Abenteuer berücksichtigt.

IV. Fazit

Die Kanäle von Grangor hat eine sehr reizvolle Grundidee und beinhaltet ein sehr episches Element durch den Kontakt mit der Götterebene Aventuriens. In der Umsetzung bietet das textlich sehr kurze Abenteuer aber oft zu wenig Hilfestellungen und dazu kommt, dass die Antagonisten letztlich eine eher geringe Herausforderung darstellen. Das Fehlen der Karten in der Neuauflage halte ich zudem für einen klaren Mangel.

Bewertung: 3 von 6 Punkten             

3 Kommentare

  1. Hier setzen die DSA1er erstmals ihre Göttersetzung um, als Autraggeber oder Gegner. Rahjas Opfer mit dem Herrn der Zeit wird erst später aufgegriffen.
    Spätestens mit Kha zhu DSA3 wäre so ein Abenteuer nicht mehr denkbar gewesen, und ist daher mit Jüngling am Strand und Schatten über Travias Haus eine große Ausnahme.
    Grangor wurde mit den Bettlern und Kanälen erstmals vorgestellt, daher waren Karten und Stadtbeschreibung so wichtig – leider fielen beide Abenteuer in die Schlanke-Zeit.

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  2. Danke für die – wieder einmal – sehr lesenswerte Rezension!

    Du wirst ja auch sehr deutlich, was die Kritik an den fehlenden Karten angeht. Ich finds schon kurios: beim Grimorim Cantiones ist im Einband ein einzelner Buchstabe falsch, und der Verlag reißt alle Einbände raus und lässt sie neu drucken und neu verleimen. Was für ein krasser Aufwand da betrieben wurde! Hier hingegen fehlen die zentralen Pläne für Stadt und Gebäude komplett, und das Produkt wird dennoch so (unvollständig) ausgeliefert. Ich kann mir das nur so erklären, dass die das erst gemerkt haben, als die Sachen schon bei den Händlern lagen.

    Wenigstens gibts den kostenlosen Download der Pläne. Haben sie damals für das Heldenwerk-Archiv I, wo der zentrale Hinweiszettel für die Helden fehlte, nicht gemacht. Weiß ich bis heute nicht, warum.

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    1. Gern geschehen:)
      Was das Heldenwerk-Archiv 1 angeht, kann ich mich ehrlich gesagt an ein fehlendes Dokument gar nicht erinnern, mir ist es offenbar nicht aufgefallen, geht in einem Sammelband vielleicht auch eher durch.
      Hier ist es mir aber leider wirklich total unverständlich, auch weil der Band nur 28 Seiten hat. Sowas müsste nach meinem Verständnis spätestens in dem Moment auffallen, in dem man ein Belegexemplar nach dem Druck in den Händen hält. Ist es aber offenbar nicht, Auslöser für den Download war wohl eine Nachfrage im Discord bei Ulisses. Dass das aus Fansicht inakzeptabel ist, muss man auch ansprechen können.

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