Rezension: Rastullah-Vademecum

Vorbemerkung: Die Vademecum-Reihe ist mittlerweile schon ausgesprochen breit angelegt, seit nach den Zwölfen auch viele Halbgötter erschlossen wurden (bzw. noch werden). Das Erscheinen einer Wüstenreich-RSH bedingt nun auch einen ganz besonderen Band. Das Rastullah-Vademecum von Anni Dürr und David Lukaßen stellt schließlich den Gott einer monotheistischen Religion in den Mittelpunkt, was mit dem in Aventurien eigentlich vorherrschenden Pantheismus nicht so einfach vereinbar ist. Zudem handelt es sich bei diesem Gott durchaus um ein kontroverses Element von DSA auf der Metaebene, indem aus kritischer Sicht eine möglicherweise eher platte Islam-Übertragung stattgefunden hat. Inhaltlich hat der Glaube bislang auch die Problematik, dass das eigentlich in Aventurien herrschende Prinzip der Gleichberechtigung der Geschlechter hier nur wenig oder zumindest eingeschränkt beherzigt wird. Ulisses hat schon im Vorfeld angekündigt, dass man all diese Umstände berücksichtigen möchte, ohne umgekehrt alle tradierten Elemente über Bord werfen zu wollen. Hier bin ich gespannt, inwiefern sich dies am Ende auswirkt.

In Zahlen:

– 160 Seiten

– Preis: Preis: 19, 95 Euro

– erschienen am 27.4. 2023

I. Aufbau und Inhalt

Am Anfang des Vademecums steht diesmal u.a. eine Spoilerwarnung, da sich Teile des Inhalts auf die jüngsten Metaplot-Bewegungen im Wüstenreich beziehen. Danach stellen sich die beiden fiktiven Autor*innen vor: Zum einen ist dies Yazemin saba Rastullah, der sich Rastullah in seiner sogenannten Zweiten Offenbarung gezeigt hat, zum anderen der Mawdli Charef Ben Rashman. Die einzelnen Kapitel sind neben der allgemeinen Überschrift auch immer einer der neun Frauen Rastullahs gewidmet, passend zu den jeweiligen Prinzipien, die mit ihr verbunden werden.

Das erste Kapitel widmet sich dann folgend der historischen Ersten Offenbarung, worin beschrieben wird, wie sich Rastullah zum ersten Mal zeigte, woraus unter anderem die 99 Gebote resultieren, die die Grundlage der Glaubensgemeinschaft bilden. Dabei wird unter anderem auf die verschiedenen Institutionen der Auslegung verwiesen, also v.a. die sehr konservative Kefter Schule, die vermittelnde Unauer Schule und die neue Khabira-Schule, die auf Yazemin zurückgeht. 

Das Geschichtskapitel schildert zunächst die Zeit vor der Ersten Offenbarung, die primär von Konflikten mit den Echsen geprägt ist und geht dann über die daraus resultierende Einigung bis in die Neuzeit, z.B. den Khom-Krieg gegen Al´Anfa und die Ereignisse um Borbarads Rückkehr bis hin zur quasi aktuellen Zweiten Offenbarung, die dann im dritten Kapitel genauer ausgeführt wird. Dies ist dann eng verbunden mit dem sogenannten Zeitalter der Rache. Auch zu diesem Ereignis werden wieder die Perspektiven der unterschiedlichen Deutungsschulen zusammengebracht, u.a. mit deren Sicht auf die Verwendung von Magie. Rastullah und seine Sippe geht folgend auf den Gott und diejenigen, die mit ihm verbunden werden, ein. Neben Rastullah selbst sind dies seine 9 Freuen, die alle mit ihren Grundprinzipien präsentiert werden.   

Ein zentrales Kapitel setzt sich mit Gesetzen und Verboten auseinander. Im Kern handelt es sich dabei um eine Auswahl der 99 Gesetze. Diese werden in Oberkategorien (z.B. die Gebote, Ernährung betreffend oder wie der Umgang mit Andersgläubigen handzuhaben ist und natürlich diejenigen, die Magie betreffen)  unterteilt und folgend exemplarisch aufgeführt, zudem schließen sich immer wieder Erläuterungen des Verfasserduos an.

Wie immer stehen auch Gebete und Festtage im Fokus. Besonderes Augenmerk wird dabei auf Gebete gelegt, die an Rastullahs Frauen gerichtet sind. Bei den sich anschließenden Personen, Orten und Artefakten werden zunächst Vorbilder genannt, wie z.B. Malkillah I+II, aber auch Yazemin saba Rastullah und die Träger*innen der Tränen Rastullahs (was ja durchaus auch eine Heldenaufgabe sein kann). Als Orte wird auf die beiden Stätten der Offenbarungen, Keft und Khabira, eingegangen, dazu auf Brig-Lo und die Oase Tarfui. Zentrale Artefakte sind die Erhabenen Schriften, ein erhaltener Fußabdruck Rastullahs, die sogenannten Tränen (Abramanten) und das Sternenschwert Esravun, das Schwert des Mautaban.

Bei den Widersachern werden zunächst die Echsenwesen als uralter Feind genannt, nun kommen aber die neuen Schrecken der Wüste hinzu, die seit kurzer Zeit dafür sorgen, dass die Novadi sich in der Khom einer großen Plage entgegenstellen müssen, was sie als religiöse Mission auffassen, die man Andersgläubigen nicht überlassen möchte. Genau diese werden hier ebenfalls angesprochen, allerdings weniger als Feind, sondern als ein Menschenschlag, dem man (in gewissen Grenzen) mit Verständnis begegnen soll.

Wie bei allen Religionen ist auch die Jenseitsfrage ein dringliches Thema, was hier mit Rastullahs Frau Marhibo verbunden ist. Dazu wird auf Deutungsmöglichkeiten des göttlichen Willens eingegangen, u.a. den Vogelflug und die Sternendeutung.

Auch das Rastullah-Vademecum hat ein Kapitel, das die Ingame-Perspektive verlässt und die Ausgestaltung eines Rastullahgläubigen am Spieltisch thematisiert. Hier ist aber eine Besonderheit gegeben, da Rastullah keine karmaspendende Entität ist (außer für Yazemin saba Rastullah). Somit geht es auch nicht um Geweihte, sondern um die Novadi im Allgemeinen. Dabei werden Alltagsaspekte wie Speisegebote, Feierlichkeiten und die generellen Tugenden aufgeführt, denen man folgen sollte, umgekehrt aber auch die Verbote. Dazu wird die mögliche Herkunft differenziert, in den Kategorien der Wüstenbewohner und der Wüstenrandgebiete, womit sowohl ländliche Gegenden wie auch die Stadtbevölkerung gemeint sind. Als Sonderformen besonders Rastullah-gefälliger Charaktere werden die Derwische, die Hadjinim, Magiewirker, Mawdli umd die Rahkisa genannt. Darauf folgt noch ein Glossar mit erklärungsbedürftigen Begriffen.

Dieses Vademecum nimmt zudem erstmals eine Kategorie auf, die in etwa den Mysterien-Kapiteln aus einer RSH entspricht: Der Rastullahglauben im Zeitalter der Rache ist als Meisterinformationen-Rubrik verfasst und beinhaltet demzufolge all die Aspekte, die mit den jüngsten Metaplot-Bewegungen im Wüstenreich verbunden sind.

II. Kritik

Wie die Zusammenfassung erahnen lässt, handelt es sich bei dem Rastullah-Vademecum um einen Band, der in vielerlei Hinsicht nicht dem gewohnten Bauprinzips eines Vademecums entspricht, auch wenn durchaus in den Oberkapiteln Gemeinsamkeiten erkennbar sind. Aber hier muss zum Beispiel keine spezielle Domäne einer Gottheit dargestellt werden und es muss auch keine Abgrenzung zu den anderen Göttern vorgenommen werden, da es sich um eine allumfassende Gottheit handelt. Somit sind gerade die ersten Kapitel sehr auf konkrete Ereignisse fokussiert, die die Glaubensdiskurse ausmachen.

Genau diese Diskursivität ist ebenfalls ein Kernmerkmal. Das Vademecum nimmt ja im Prinzip eine parteiische Position ein, indem die beiden Schreibenden Kernvertreter der liberalen, neuen Strömung innerhalb des Rastullah-Glaubens sind. Somit ist das Vademecum gleichermaßen als Zeugnis einer Renovation der Verehrung aufzufassen, auch wenn traditionelle Auffassungen berücksichtigt werden. Das ist aus meiner Sicht ein ausgesprochen spannender Prozess, indem man überall Bemühungen erkennen kann, dem Glauben ein neues, moderneres Gewand zu verpassen, ohne gleichzeitig sämtliche Setzungen der fast 40 Jahre zuvor auslöschen zu wollen.

Das beginnt beim Frauenbild: Hier wird diesen an vielen Stellen merklich eine Stimme gegeben. Zuallererst gelingt dies durch Yazmina selbst, die als eine Verfasserin auftritt und ja gleichzeitig auch die Symbolfigur einer Zeitenwende innerhalb der Glaubensbewegung ist als Protagonistin der Zweiten Offenbarung ist. Auf der Deutungsebene werden zusätzlich die 9 Frauen Rastullahs in ihrer Bedeutung massiv aufgewertet, indem sie nun quasi als Inkarnationen von dessen Wesenszügen bzw. als Repräsentantinnen der verschiedenen Glaubensprinzipien beschrieben werden. Somit sind sie jetzt keine Anhängsel mehr, sondern stehen im Mittelpunkt der Verehrung dieser Grundsätze. Und gleichzeitig wird – quasi durch die Hintertür – trotzdem ein Äquivalent eines Pantheons hinzugefügt, indem so ein wenig vermieden wird, einen Gott allein in dem Mittelpunkt zu stellen. Die Namen der Frauen signalisieren zudem eine Verwandtschaft zu den Zwölfen und bilden somit auch ein wenig einen Brückenschlag zu deren Glaubensgemeinschaften.

Ebenso wird sichtlich versucht, die Unversöhnlichkeit zwischen Monotheismus und Pantheismus aufzuheben. Das Kapitel zu den Andersgläubigen ist sichtlich so verfasst, dass hier keine ständigen Konflikte aufgebaut werden sollen, sondern Gemeinsamkeiten betont werden oder Nachsichtigkeit im Umgang eingefordert wird. Allerdings wird das nach meinem Verständnis nicht allzu konsequent eingehalten, wenn z.B. in den Kapitelüberschriften der Begriff „Andersgläubige“ verwendet wird, diese dann im Fließtext, nicht nur in den 99 Gesetzen, sondern auch in den Verfassertexten, immer wieder als „Ungläubige“ bezeichnet werden.

Das ist tatsächlich ein Aspekt, den ich persönlich als uneindeutig empfinde, sowohl im Thema Monotheismus/Pantheismus als auch bei der Gleichberechtigung. Auch dort sind zwar die Frauen – wie schon erwähnt – hervorgehoben, und dennoch bleibt es dabei, dass sie Rastullah untergeordnet sind, der letztlich als Prinzip über allem steht.

Zu dem Diskursaspekt gehören auch die unterschiedlichen Auslegungen der 99 Gesetze. An dieser Stelle ist mein Eindruck etwas zwiegespalten: Einerseits ist dies offenkundig ein wichtiges Merkmal der Rastullahverehrung, dass es eben nicht die eine Meinung gibt, sondern viele Stimmen, die Deutungshoheit anstreben. Andererseits erhält das Vademecum so für mich auch einen etwas bürokratischen Touch, eine Gesetzessammlung ist für mich weit weniger interessant, zumal sie relativ viel Raum einnimmt. Was mir hier ein wenig fehlt im Vergleich zu den anderen Bänden der Vademecum-Reihe, sind die märchenhaften Anleihen in Form von Sagen und Legenden, die eben weit weniger nüchterner daherkommen. Das ist sicher aber auch eine Frage des persönlichen Geschmacks, für mich aber auffällig. 

Was mir etwas fehlt, ist der generelle Aufbau der Glaubensgemeinschaft, mit seiner Struktur und einer Art Kirchenhierarchie. In gewissem Rahmen gibt es diese ja und in den sonstigen Bänden der Reihe wird dies auch immer vermittelt (es sei denn, es gibt so eine Struktur gar nicht). Trotz der unterschiedlichen Schulen und der Tatsache, dass es keine Geweihten im eigentlichen Sinne gibt, müsste nach meinem Verständnis so etwas vorhanden sein, hier vermisse ich den gewohnten Standard.

Unumwunden gelungen sind aus meiner Sicht die Aktualitätsbezüge: Das Sonderkapitel und die ständigen Referenzen zum Zeitalter der Rache geben dem Vademecum einen deutlich dynamischeren Anstrich als es normalerweise der Fall ist. Gerade in Hinsicht auf die erwünschte Bewegung im Metaplot und Themen wie der stattfindenden Götterdämmerung hoffe ich darauf, dass solche Ansätze fortgeführt werden.

III. Bewertung

Das Rastullah-Vademecum ist ein sehr ungewöhnlicher Vertreter der Reihe, da eine monotheistische Religion andere Schwerpunkte setzt als eine solche, die an ein Pantheon glaubt. Gelungen sind aus meiner Sicht vor allem die Ansätze, den aktuellen Metaplot des Wüstenreichs einzubinden. Die inhaltlichen Modernisierungsideen sind interessant, allerdings empfinde ich einige Passagen, wie die Diskurse über die Gebote nicht immer als reizvoll und mir fehlen Aspekte zur Struktur der Glaubensgemeinschaft.

Bewertung: 4 von 6 Punkten                    

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